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Sonntag, 19. Juni 2011

"Bevölkerungsurne" und "Schrumpfvergreisung": Brisante Mischung aus Zahlen, Annahmen und Emotionen vor 80 Jahren und heute




Einer der geistigen Wegbereiter/ Mitläufer der Rassenideologie der Nazis, Friedrich Burgdörfer, prophezeite angesichts „Geburtenschwund und Überalterung des deutschen Volkskörpers“ (Buchtitel, 1932) verbunden mit hohen Wachstumsraten und Einwanderung anderer Völker einen „biopolitischen Grenzkampf“ (Zitat im Schulbuch Meyer-Zimmermann, 1939*). Ich habe hier die Begriffe „Wegbereiter“ und „Mitläufer“ absichtlich mit Schrägstrich verbunden, da Wegbereiten und Mitlaufen bei Burgdörfer, wie bei vielen anderen Nazi-Wissenschaftlern, von denen auf diesem Blog z.T. schon die Rede war (z.B. Mengeles Lehrer und Mentor Verschuer), sehr eng miteinander verbunden war. Auf dieses Phänomen werde ich an anderer Stelle noch genauer eingehen. Es geht mir dabei nicht um die Schuldfrage, sondern darum, wie Wissenschaftler und Vermittler von Wissenschaft sich vom „Zeitgeist“ beeinflussen lassen und gleichzeitig seine Richtung mitbestimmen.
Zum Lebenslauf Burgdörfers und seinem Wirken vor, während und nach der Nazi-Zeit siehe z.B. Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Burgd%C3%B6rfer

* Erich Meyer und Karl Zimmermann: Lebenskunde, Band 4, Verlag Kurt Stenger, Erfurt (ohne Angabe des Erscheinungsjahrs; schätzungsweise ca. 1939,

 
Für Interessierte, die Friedrich Burgdörfers Mischung von Zahlen, Projektionen und emotionaler Aufladung, z.B. im Rahmen einer Diplomarbeit, einmal vergleichen möchten mit heutigen Theorien, wie sie etwa von Gunnar Heinsohn verbreitet werden (mit emotionalen Aufladungen durch Begriffe wie „Schrumpfvergreisung“ und „demographische Hochrüstung“), hier einige Titel antiquarisch erhältlicher Bücher Burgdörfers:


Friedrich Burgdörfer: Sterben die weißen Völker? Die Zukunft der weißen und farbigen Völker im Lichte der biologischen Statistik. In: Deutsches Statistisches Zentralblatt. Hrsg. von Eugen Würzburger, Friedrich Burgdörfer, Johannes Müller, Wilhelm Morgenroth und Friedrich Prinzing. Einundzwanzigster [21.] Jahrgang 1929

Friedrich Burgdörfer: Vom Leben und Sterben unseres Volkes. In: Soziale Zeitfragen. Beiträge zu den Kämpfen der Gegenwart. Hrsg.v. Adolf Damaschke, Heft 88. Bodenreform/Berlin 1929

Friedrich Burgdörfer: Volk ohne Jugend. Geburtenschwund und Überalterung des deutschen Volkskörpers. Vowinckel, Berlin, 1932
 
 
"Volk ohne Jugend", Ausstellungsplakat, März 1933 (Bild: Bundesarchiv)

 

Friedrich Burgdörfer: Zurück zum Agrarstaat? (Inhalt: Stadt und Land in volksbiologischer Betrachtung - Dynamische Grundlinien künftiger deutscher Agrar-, Siedlungs-,Wohnungs- und Wirtschaftspolitik). 1. Aufl. Berlin-Grunewald, Kurt Vowinckel Verlag, 1933

Friedrich Burgdörfer: Bevölkerungsentwicklung im Dritten Reich, Tatsachen und Kritik. Vowinckel, Heidelberg, 1937

Zum Thema "Sterben die weißen Völker?" vgl. Madison Grant, The Passing of the Great Race, erschienen in deutscher Sprache mit dem Titel „Der Untergang der großen Rasse“, 1925 (es liegt nahe, dass Burgdörfer von Grants Buch inspiriert wurde)


Pyramide, Glocke, Urne: Friedrich Burgdörfers "Die drei Grundformen der Bvölkerungsstruktur", 1932 (Quelle: Bayerische Staatsbibliothek)

http://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0135_pyr&l=de

Die Bezeichnung "Urne" für die Darstellung einer Altersstruktur der Bevölkerung eines Industrielands mit hoher Lebenserwartung und niedriger Geburtenrate (verbunden mit niedriger Säuglings- und Kindersterblichkeit) ist sehr eingängig und emotional aufgeladen. Sie ist leicht mit der Vorstellung vom "Sterben" ("Volkssterben") zu assoziieren - obwohl "längeres Leben" (für mehr Menschen) dahinter steht. Über die Lebensqualität und die Teilhabe Älterer am gesellschaftlichen Leben und Arbeitsleben und über die gestiegene Produktivität durch Technisierung sagt die "Urne" nichts aus.

Mit ähnlich emotional aufgeladener Bildersprache, angelehnt an Burgdörfer, arbeitet Heinsohn, wenn er von "Schrumpfvergreisung" spricht.


 Zu "Kontinuitäten" der Bevölkerungswissenschaft, zu denen Burgdörfers Rolle als Nachkriegs-Gründungsvater der Bevölkerungswissenschaft in Deutschland gehört, siehe Artikel von Rüdiger Suchsland "Im Land der Schrumpfgermanen" (2006); http://www.heise.de/tp/artikel/22/22581/1.html

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In einem Artikel von Volkmar Weiss (wie Heinsohn eine wichtige Referenz für Thilo Sarrazin), werden sowohl Heinsohn als auch Burgdörfer lobend erwähnt; Titel "Bevölkerungsqualität: Der demographische Übergang in den Untergang"
http://www.scribd.com/doc/22172831/Bevolkerungsqualitat-Der-demographische-Ubergang-in-den-Untergang

Besagter Artikel von Volkmar Weiss enthält auch einen englischsprachigen Untertitel: "The Population Cycle Drives Human History - from a Eugenic Phase into a Dysgenic Phase and Collapse". Hinweis dazu: Auch Sarrazin verwendet den Begriff "dysgenisch"; erläutert an anderen Stellen auf diesem Blog - der entsprechende Begriff in der Nazizeit lautete "Gegenauslese".

Die englischsprachige Version des Artikels wurde veröffentlicht im "Journal of Social, Political and Economic Studies" (2007) und ist eine der wenigen im Wikipedia-Artikel "Population Dynamics" zitierten Referenzen (http://en.wikipedia.org/wiki/Journal_of_Social,_Political,_and_Economic_Studies), was auf eine maßgebliche Mitautorenschaft des Verfassers oder des Verlags an dem Wikipedia-Artikel hindeuten könnte.
Das "Journal of Social, Political and Economic Studies" ist ein Propaganda-Organ für eugenische Weltsicht und wird vom gleichen Verlag herausgegeben wie "Mankind Quarterly".
http://en.wikipedia.org/wiki/Journal_of_Social,_Political,_and_Economic_Studies; http://en.wikipedia.org/wiki/Roger_Pearson; siehe auch auf diesem Blog http://guttmensch.blogspot.com/2011/06/forderung-und-finanzierung-der-eugenik.html
Aus dem Wikipedia-Eintrag zu dem Herausgeber Roger Pearson und anderen Quellen geht hervor, dass dieser  nach dem Krieg auch mit dem (auf diesem Blog schon erwähnten) prominenten Nazi-Rassenideologen Hans Günther zusammenarbeitete.


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Weitere Quellen zur "Überalterungs"-Diskussion (und -Agitation) z.B.:  

http://www.tec-search.net/de/group/172458/%C3%9Cberalterung

Rainer Mackensen Demographie als Wissenschaft
www2.hu-berlin.de/leibniz-sozietaet/archiv%20sb/051/07_mackensen.pdf
Auszug: 
".. Burgdörfer: … Man kann ihn ohne Bedenken als den einflußreichsten Bevölkerungsstatistiker in Deutschland zwischen 1920 und 1955 bezeichnen. … Seine Idee war, daß infolge des Geburtenrückgangs aus dem deutschen „Volk ohne Raum“ (nach Hans Grimm) ein „Volk ohne Jugend“ geworden sei, das mit allen denkbaren bevölkerungspolitischen Mitteln vor seinem Untergang – infolge Überalterung und „Überfremdung“ – bewahrt werden müsse. Die nationalistische Fahne schwang er von Anfang an; die eugenische Argumentation benutzte er anfangs lediglich durch Hinweise auf die damals in Deutschland bekannten Veröffentlichungen vor allem von Ploetz und Lenz. Nachdem er jedoch 1933 in Berlin eine Denunziation von Nationalsozialisten … erfolgreich überstanden hatte …, veröffentlichte er bereits im nächsten Jahr mit dem Vererbungswissenschaftler Kühn und dem fanatischen Eugeniker Staemmler ein Buch über „Erbkunde – Rassenpflege – Bevölkerungspolitik“."
 

Thomas Etzemüller: Ein ewigwährender Untergang: Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert. transcript Verlag, 2005;
 

6 Kommentare:

  1. Merkzettel fuer alternativen Titel:

    Bevoelkerungsurne oder Bevoelkerungspokal? - Wie Begriffe die Wahrnehmung praegen

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  2. Merkzettel

    Spruch
    "To govern is to populate"
    "Herrschen heißt Bevölkern"

    Herkunft und Verwendung nachsehen

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  3. F.A.Z. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.06.2004, S. 039
    Ressort: Feuilleton

    Die Bevölkerungsurne
    Höheres Alter heißt mehr Arbeit / Von Joachim Starbatty

    Die neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes zur Bevölkerungsentwicklung in Deutschland (F.A.Z vom 5. Juni) belegen es: Die Bevölkerungspyramide von früher verformt sich weiter zur Urne. Doch schon jetzt müssen immer weniger Erwerbstätige immer mehr Rentner unterhalten, und noch weniger Erwerbstätige wachsen nach. Und die Erwerbstätigen von heute leben immer länger; die Ausgaben für Rente, Gesundheit und Pflege nehmen rapide zu. Sie werden weitgehend über Umlagen finanziert, die von den Erwerbstätigen aufgebracht werden. Die Belastung ist inzwischen so hoch, ...

    http://www.genios.de/presse-archiv/artikel/FAZ/20040607/die-bevoelkerungsurne-hoeheres-alte/FD1200406072293070.html

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    1. Starbatty im Fahrwasser Sarrazins

      Aus
      Prof. Dr. Paul J.J. Welfens, Präsident des Europäischen Instituts für Internationale Wirtschaftsbeziehungen (EIIW), Lehrstuhl Makroökonomik und Jean Monnet Professor an der Bergischen Universität Wuppertal ...
      Welfens hat als Experte u.a. für den IMF, die Deutsche Bundesregierung, die Landesregierung Nordrhein-Westfalen, das
      Europäische Parlament, das Wirtschaftsministerium der Niederlande und den US-Kongress gewirkt.
      welfens@eiiw.uni-wuppertal.de (sarrazinfakten2013welfens)
      21.6 2013 © Welfens
      Sarrazins kurze Beine: Fakten sprechen gegen ihn

      ... Sarrazin verbreitet nicht nur absurde Einwanderungsanalysen, sondern präsentiert seitenweise unhaltbare Vorurteile gegen türkische Immigranten: Über weite Strecken ist das Buch eine
      Abfolge pseudowissenschaftlicher Fehlanalysen ...
      Sarrazin, seit Jahrzehnten aus dem Wissenschaftsbetrieb
      abwesend, hat bekanntlich gleich noch ein Folge-Buch geschrieben, wonach wir den Euro nicht brauchen; dieser Text ist im Übrigen von noch viel mehr Fehl-Analysen geprägt als
      Deutschland schafft sich ab. Erschreckend ist allerdings, dass nicht wenige Wähler das statistikschwere Sarrazin-Buch von 2010 als eine Art objektive Grundlage missverstehen, rechtsradikal zu wählen. ...

      Heute ist die übergroße Mehrheit der Menschen gut gebildet und trotzdem hat sich in der Gesellschaft kein wirklicher Protest gegen den defekten Wecker namens Sarrazin erhoben. Die Lust an kritischer eigener Reflexion, am Überprüfen von Behauptungen und Fakten ist nicht eben groß. ...

      Ein millionenfach verkauftes Sarrazin-Buch wird auch nach umfassender Demaskierung eines Produktes, das als Auto eine große Rückrufaktion erlebt hätte, wird noch viele Jahre eine
      Phantom-Existenz erleben. ...

      Ach – hatte Sarrazin nicht auch ein Buch zum Euro geschrieben? Auch in diesem Bereich gibt es prominente Autoren, die von eigenen Vorurteilen geblendet, keinen objektiven Blick auch
      nur auf historische Fakten und einfache ökonomische Zusammenhänge haben. Ein ehemaliger BDI-Geschäftsführer, immerhin Honorarprofessor für Wirtschaft an der Universität
      Mannheim, behauptet, dass die Einführung des Euro keinen positiven Effekt auf den Intra-Euro-Handel habe – denn der Anteil des Euro-Handels an den Gesamtexporten der Euro-
      Länder sei gesunken. Er ist aber nicht wegen des Euros gesunken, sondern weil des Wachstum der Handelspartner in Asien so viel höher als in der Eurozone war; ohne den Euro
      wäre der Anteil des Intra-Euro-Handels am Gesamthandel der Eurozone noch weiter abgesunken! Ein wenig Nachdenken schadet also auch bei Olaf Henkel vielleicht nicht. Es
      gibt keine empirische Studie, die einen negativen Effekt des Euro auf den Handel in der Eurozone zeigt, vielmehr liegt über eine Dekade gerechnet der Effekt in einer Größenordnung
      von +10% bis +25%. Eine populäre Falschbehauptung in Sachen Euro findet sich bei Joachim Starbatty, der in seinem populistischen Euro-Buch „Tatort Euro“ historische Fakten verdreht:
      Man kann den Tatort der Wahrheitsverdrehung besichtigen, wo der Autor behauptet, dass die Währungsunion der Preis für die Wiedervereinigung sei. Tatsache ist aber einfach, dass am 9.
      November 1989 die Mauer in Berlin unerwartet fiel, während der Beschluss zur Gründung der Währungsunion im Juni 1989 auf dem EU-Gipfel von Madrid gefasst wurde. Wenn man also nicht eine ungewöhnliche Hellseherei in Pariser Regierungskreisen annehmen will, dann ist dieser von Starbatty behauptete Zusammenhang einfach nicht-existent. Wenn gute Wissenschaft etwas mit sorgfältiger Faktenanalyse zu tun hat, dann ist Joachim Starbatty von solcher Wissenschaft weit entfernt – wie sein Buch mit seinen sonderbaren ideologiegefärbten und populistischen Behauptungen. Dass sein Buch von Philipp Plickert in 2013 euphorisch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung besprochen wurde, fügt sich ins Bild einer unaufgeklärten Republik, in der wohl allzu viele gerne Dinge glauben, die einem ins bequeme
      Weltbild passen. ...

      http://www.eiiw.eu/fileadmin/eiiw/Daten/Publikationen/Sonstiges/sarrazinfakten2013welfens.pdf

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    2. Joachim Starbatty, AfD

      Joachim Starbatty ... ist ein deutscher Ökonom und Politiker (AfD). Er ist emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der Eberhard Karls Universität Tübingen und war Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft. Mit seinen Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht erlangte er Aufmerksamkeit. Starbatty ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der AfD und für Deutschland seit 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments. ...

      http://de.wikipedia.org/wiki/Joachim_Starbatty

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  4. DerPatriarch
    21. April 2013 12:23 Uhr

    306. Anscheinend ist es eine krasse Mindermeinung...

    aber es ist doch nicht die ganz große Lösung, jetzt auf einmal wieder mehr Kinder zu bekommen?!
    Wem soll das nützen; ist denn nicht nahezu jeder Arbeitsplatz bereits besetzt? Wollen wir weiter künstlich neue (Arten von) Jobs schaffen, damit die Jungen so tun können, als ob sie irgendetwas Zusätzliches erwirtschaften?

    Bei vernünftiger Verteilung der Ressourcen ist bei der heutigen Produktivität jetzt schon absolut genug da, um alle Alten "durchzufüttern"- wahrscheinlich selbst doppelt so viele..
    Leider sind Einkommen und Vermögen extrem ungleich verteilt; eine unbestrittene Tatsache und zugleich die einzig logische Erklärung dafür, dass es großen Teilen der Bevölkerung immer schlechter geht!

    Hier und nur(!) hier muss man ansetzen.

    Kinderkriegen attraktiver zu machen um das Ersatzheer für den Ausbeutermarkt zu vergrößern und einen Planeten mit bereits jetzt kaum noch reparablen Umweltdefekten noch dichter zu bevölkern (in den letzten 100 Jahren hat sich die Bevölkerung versiebenfacht), nenne ich Wahnsinn!- so wie die ganze Idee des Wirtschaftswachstums.

    http://www.zeit.de/2013/17/demografie-babyboomer?commentstart=305#cid-2445208

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